Woke, Gendersprache, Identitätspoltik: Einengung und Zwang (2024)

Gastkommentar

Der Idealzustand einer Gesellschaft nach dem Woke-Prinzip fliesst in stereotypem Takt scheinheiliger Harmonie – ein Takt, den kein Mensch auf Dauer ertragen könnte. Wenn Gewissenhaftigkeit ein gesundes Ausmass überschreitet, entsteht einengender Zwang.

Esther Bockwyt

Woke, Gendersprache, Identitätspoltik: Einengung und Zwang (1)

Es ist die Rede von Spaltung der Gesellschaft, von Kulturkampf. Eine der extremen Auswüchse wird «Woke» genannt, häufig auch «linke Identitätspolitik». Es handelt sich um eine Ideologie der Wachsamkeit gegenüber Diskriminierungen und Machtungleichheit.

Was auf den ersten Blick fortschrittlich und gerecht klingt, nimmt mehr und mehr ungesunde, militante Züge an, verbunden mit der Stigmatisierung Andersdenkender (Beispiel: J.K. Rowling). Auf der Basis einer pauschalen Einteilung von Menschen in Opfergruppen und Privilegierte wird abgeleitet, wer was wann sagen oder tun darf.

Moralisierender Perfektionismus

«Kulturelle Aneignung», gendergerechte Sprache, Trigger-Warnungen, oder Mikroaggressionen sind einige populäre Inhalte im Bereich der woken Identitätspolitik. Ein jüngeres Beispiel dafür war die Ausladung einer Musikerin durch die Veranstalter von «Fridays for Future» Hannover. Der Grund war ihre Dreadlocks-Frisur – es wurde «kulturelle Aneignung» moniert, die Frau solle ihre Haare abschneiden.

Das übergeordnete Dogma solch hochmoralisierter Inhalte ist die Annahme, dass allein das Fühlen von marginalisierten Gruppen bestimmt, was (diskriminierende) Realität ist. Doch was steckt aus psychologischer Perspektive hinter dieser Ideologie?

Zunächst einmal ist der Grundstein einer jeden linken (und auch der woken) Geisteshaltung die Annahme, dass die Welt, in der wir leben, nicht gut und gerecht ist. Die Welt ist zu korrigieren (zu «dekonstruieren», «fortschrittlich zu erneuern»), weil wir falsche gesellschaftliche Normen (zum Beispiel ein falsches Verständnis von Geschlechtsidentität) verinnerlicht hätten. Das Grundprinzip von Woke ist somit nicht neu.

Menschen neigen dazu, sich durch starke Identifikation mit ehren- und tugendhaften Idealen und scheinbar progressiven, modernen Ideen in ihrem Selbstwertgefühl selber aufzuwerten – Woke ist also sinnstiftend und gewissermassen auch ein Statussymbol. Psychologisch spezifisch für eine radikal ausgelegte und gelebte Woke-Ideologie ist somit die intellektualisierte Fixierung auf Moral, einhergehend mit dem Streben nach Perfektion – die Vorstellung von einer Art störungsfreiem Lebensraum ohne Potenzial für Kränkungen, Spannungen und Wut.

Nun kann dieser Wunsch nach Perfektion aber auch etwas Rastloses und Zwanghaftes annehmen. Und ist man dem zwanghaften Modus des Erlebens einmal erlegen, gibt es nur noch immer strengere und starrere Regeln und Ordnungen, die kein Abweichen erlauben. Mit einer radikal gelebten Woke-Ideologie geht denn zumeist auch eine etwas verbissene Ernsthaftigkeit und Humorbefreitheit einher.

Und weil jeder Zwang aus sich heraus die Neigung hat, sich auf neue Gebiete auszudehnen, entwickelt sich die Rigidität im Erleben und Denken eigendynamisch zu einer immer ausgeprägteren Einengung: immer mehr Regeln, immer weniger Freiraum in immer mehr Lebensbereichen. Das Resultat ist ein ständiges, passives Konkurrieren um immer neue Opferrollen. So darf am Ende beispielsweise im Spielfilm nur noch ein hom*osexueller Mensch einen solchen darstellen.

Scheinempathie und Hypersensibilität

Doch wie viel echte Sensibilität und Rücksichtnahme sind Menschen überhaupt in der Lage aufzubringen? Es ist ein Trugschluss, eine Verkennung der menschlichen Psyche, zu glauben, man könne ein moralisches System etablieren, in welchem jeder auf jeden in hohem Mass Rücksicht nehmen kann. Menschen sind zwar mit der Fähigkeit zur Empathie ausgestattet und verhalten sich auch altruistisch. Doch eine sich rein Dogmen unterwerfende und überzogene Sensibilität bleibt am Ende bloss eine Scheinempathie.

Erwachsene Menschen brauchen eine gewisse Widerstandsfähigkeit, um sich damit abfinden zu können, dass es immer Konflikte zwischen Menschen und ihren Bedürfnissen gibt und dass Kränkungen unvermeidbar sind. Die von der Woke-Ideologie vertretene Auffassung, dass wir uns gegenseitig nichts mehr zumuten dürfen, läuft auf eine Vermeidungshaltung und auf eine ausufernde Rhetorik der Verwundbarkeit hinaus.

Und natürlich führt dies auch auf der Seite der sogenannt Privilegierten zu Reaktionen; zunächst zu einer unehrlichen Selbstkasteiung und Unterwerfung, oft zu einer perversen Art von Schuldgefühl und damit nur zu einer allenfalls oberflächlichen Rücksichtnahme und zu scheinbarer Empathie. Ein solcherart kollektiv moralisch aufgeladenes Regelsystem unterdrückt letztlich das Reflexhafte, Spontane, das Affektive, das Laute, das Wilde – ja auch das manchmal archaisch-primitiv Inkorrekte im Menschen. Wenn sich Menschen aber aus Angst vor der nächsten Verfehlung immerzu in angestrengt angespannter Haltung zusammennehmen und das Impulshafte in Schach halten müssen, kann das krank machen oder sich auf anderem, ungutem und verdecktem Wege entladen.

Langfristig wird es in jeder Gesellschaft, die an ihrem Moralin zu ersticken droht, immer eine Gegenbewegung geben. Es bleibt kein anderer Weg, als Ambivalenzen und Kränkungen wieder besser aushalten zu lernen, uns Inkorrektheiten und weniger Perfektionismus zu erlauben – und weniger narzisstisch um unsere Identität zu kreisen.

Esther Bockwyt ist Psychologin, Autorin und Gerichtsgutachterin.

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