Wokeness: "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" (2024)

Das Wort „woke" stammt aus der US-Bürgerrechtsbewegung. Was bedeutet „wokeness“? Und warum geht sie manchen zu weit?

Eine zivilisierte Debatte am Campus einer US-Universität zu führen, ist mittlerweile fast so etwas wie eine eigene Disziplin. Ein Schlittschuhlauf auf dünnem Eis. Ein falscher Kufeinsatz und schon landet man krachend im kalten Wasser, ohne Aussicht, wieder herauszukommen. Es wollen die richtigen Worte gewählt werden, die richtigen Phrasen der Anerkennung und der Wertschätzung, und zwischen alledem soll auch noch eine Meinung, ein Faktum hineingepackt werden. Für all jene, die nicht in den vergangenen Jahren in den USA sozialisiert worden sind, ist diese Art der Diskussion beinahe ein Ding der Unmöglichkeit.

Und auch US-amerikanische Studierende haben ihre liebe Not damit. Für diesen Artikel haben einige Absolventen von US-Eliteuniversitäten mit der „Presse am Sonntag“ gesprochen. Sie alle pochen auf Anonymität. „Wenn ich sage, dass ich das Gefühl hatte, an der Uni nicht alles sagen haben zu können, was ich sagen wollte – dann hätte ich ein Riesenproblem, sozial und beruflich“, sagt einer von ihnen.

Eine andere erinnert sich an ein Gespräch zu Beginn ihrer Studienzeit an einem Elite-Campus im Nordosten der USA. „Ich bin mit einem Kommilitonen Themen durchgegangen, die ich in einem Kurs besprechen wollte“, erzählt sie. Als sie über Fragen zu sexueller Identität sprechen wollte, habe der neue Freund sie verdutzt angesehen. Und ihr ernst entgegnet: „Sag das lieber nicht.“ Sprechverbote an US-Universitäten? Es ist ein Bild, das gern von rechten Kommentatoren gemalt wird, doch auch für viele Studenten in Ansätzen erkennbar ist: Zumindest eine übermäßige Vorsicht erkennen sie, was dazu führe, dass die Diskussionsqualität leide. Sagen sie anonym.

Zwischen Meghan und DeSantis. Ist es das, was Leute meinen, wenn sie sagen, wokeness habe den gesellschaftlichen Diskurs in den USA in Geiselhaft genommen? Mitunter. Woke, als Wort, wird mittlerweile für alles Mögliche verwendet, für die Schnittmenge zwischen politischer Korrektheit und cancel culture, für progressiven Aktivismus, für Restaurants und Modemarken, die sich offen für die queere Gemeinschaft, für Arbeiterrechte, für freien Ausdruck der Identität einsetzen. Selbst das britische Königshaus wird mittlerweile in einen traditionellen (Prinz William und Kate Middleton in London) und in einen woken Flügel (Prinz Harry und Meghan Markle in Kalifornien) geteilt.

Alles ist komplizierter geworden, statt offenen Diskussionen erscheint potenziell jede Äußerung als Eröffnung eines politisch offenen Flügelkampfs, selbst, wenn sie eigentlich nicht so gemeint war. Die einen sehen woke als Eingriff in die Meinungsfreiheit und echauffieren sich darüber, dass bei „Mario Kart“ ein Regenbogen vorkommt; für andere ist es schlicht eine Haltung zum besseren Zusammenleben.

Dass woke eigentlich ein politisches Konzept aus der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung ist, wird dabei gern vergessen – das ist, im Übrigen, ein Mitgrund dafür, warum sich Identitätspolitik im US-Stil so schlecht ins Europäische übersetzen lässt (beziehungsweise hier nur für rechte Parteien gut funktioniert). In den 1940er-Jahren tauchte woke (zu Deutsch „erwacht“) das erste Mal auf: als Hinweis, dass schwarze US-Amerikaner mit offenen Augen durch eine zutiefst rassistische Gesellschaft gehen müssten: ein strukturelles Erwachen Ungerechtigkeit gegenüber.

Im Laufe der Jahrzehnte wurde der Begriff synonym für die Idee, bewusst und informiert gesellschaftlichen Problemen gegenüberzustehen zu können. Sehenden Auges, könnte man sagen, wach, Ungleichheit benennen. Das bedeutet woke.

Die „Black Lives Matter“-Bewegung, die ab 2013 in den USA immer aktiver wurde, machte den Begriff wieder populär, um nicht zu sagen zum Mainstream. Nachdem Polizisten 2020 in Minneapolis den Schwarzen George Floyd ermordet hatten, zog die Bewegung noch größere Kreise. Gleichzeitig saß da mit Donald Trump ein Mann im Weißen Haus, dem nicht nur eine Nähe zu Rassisten, zu weißen Allmachtsfanatikern nachgesagt wurde. Sondern auch einer, der das Spiel mit der Identitätspolitik – und gegen wokeness – perfekt beherrschte. Sein Erbe ist heute unter anderem eine tief gespaltene republikanische Partei, die über die von Trump gezogenen Gräben kaum mehr hinwegkommt. Aber auch eine, die nach wie vor mit dem war on woke, dem Krieg gegen wokeness, hausieren geht. Ron DeSantis gewann seine Wiederwahl als Gouverneur in Florida vor wenigen Wochen mit dem Versprechen, sein Bundesstaat werde der Ort sein, „wo woke sterben wird“.

Persönliche Befindlichkeiten. Wie kann ein Dekaden altes Konzept der Bürgerrechtsbewegung so extreme Reaktionen auslösen? Denn die Sache ist: Größere zivilgesellschaftliche Achtsamkeit hat in den USA auch Sicherheit geschaffen für Minderheiten. Achtsamkeit in der Wortwahl, Achtsamkeit bei dem, was man über Gruppen sagt, deren Geschichte man kennt oder auch nicht; Achtsamkeit dahingehend, dass Menschen mit unterschiedlicher Hautfarbe, unterschiedlichen sexuellen Orientierungen auch unterschiedliche Erfahrungen im Leben machen: Es sind grundsätzlich Höflichkeit und Respekt, die das Zusammenleben besser machen. Und über die Jahre, Jahre, in denen die USA diverser geworden sind, ist das nicht nur zum guten Ton geworden, sondern auch zu dem Ton, den man erwartet. Etikette, wenn man so will. Das sagen auch die Absolventen, die für diesen Artikel mit der „Presse am Sonntag“ gesprochen haben. Letztlich sei es gut, dass man bewusst miteinander umgehe – und diverse Hintergründe mitdenke. Alles in allem: eine Stärke der US-amerikanischen Gesellschaft, das finden vor allem die Europäer unter ihnen.

Wo beginnt nun das Problem? „Es ist der Moment, in dem persönliche Geschichten plötzlich mehr zählen als eine Grundsatzdiskussion“, sagt Arthur, der eigentlich anders heißt und den Namen für sein Interview gewählt hat. Arthur ist 33 Jahre alt, hat einen prominenten Job im öffentlichen Dienst der Stadt New York. Die Kreise, in denen er sich professionell wie persönlich bewegt, sind international – das ist klassisch für New York City, einem der diversesten Orte der Welt. Arthur liebt es, in diesem Umfeld zu leben und ständig neue Menschen kennenzulernen – und ihre Geschichten zu hören. „Ich bin so etwas wie ein Dinnerparty-Dauergast“, sagt er.

Doch von diesen Dinnerpartys kann Arthur auch erstaunliche Anekdoten erzählen. Sie illustrieren gut, was jene meinen, die eigentlich kein Problem mit woke haben – aber denen das Ding mittlerweile zu weit geht. „Es sind häufig ziemlich privilegierte Amerikaner, die ein Wokeness-Mindset für sich beanspruchen und damit ganze Abende sprengen“, meint Arthur. „Wenn ein Gespräch unter Freunden in eine Richtung abbiegt, die ihnen nicht passt, machen sie ein ganzes Identitätstheaterstück daraus.“ Sie würden sich im besten Fall zu beleidigten Leberwürsten machen, im schlimmsten Fall zu Opfern stilisieren. „Und angesichts der Gewalt, die Minderheiten nach wie vor in den USA tagtäglich erleben, tun sie der Sache, die sie eigentlich unterstützen wollen, wirklich nichts Gutes.“

Ein Gefühl, das Sarah kennt. Die Britin schloss im vergangenen Sommer ihr Studium an einer New Yorker Universität ab und arbeitet seither in der Unterhaltungsbranche. Auch sie will ihren echten Namen nicht nennen. „Ich hatte an der Universität oft das Gefühl, dass bei gewissen Themen die Menschen einfach verstummten. Nicht, weil sie nicht diskutieren wollten, sondern weil es immer Leute gab, die die Sache zu einem persönlichen Kleinkrieg ausweiteten“, erinnert sie sich. „Und zwar nicht nur Amerikaner.“ In ihrem Privat- und Berufsleben kenne sie so ein Verhalten in dieser Form nicht, „vielleicht noch nicht“, aber: „Ich kenne es von Twitter und Facebook.“

Das ist vielleicht der nächste Punkt: Woke wird gemeinhin gern verwechselt mit lautstarken Auseinandersetzungen über Trivialitäten im Internet. Selbst die Kritik, die berechtigt ist, wird von Leuten, die außerhalb davon stehen, nur noch mit einem Augenrollen kommentiert. „Ich denke mir oft: Ja, klar hab ich eine Meinung zu diesem Thema. Aber ich habe keine Lust, mich im Internet zerfleischen zu lassen, weder von links noch von rechts“, sagt Sarah. Der Hausverstand, den alle gern beschwören: Der gehe verloren bei solchen Debatten, egal, auf welcher Seite man steht, meint sie.

Musk und die Meinungsfreiheit. Alles, was nicht ins eigene Weltbild passt, wird zum Hassobjekt stilisiert: Linke Internet-Aficionados blasen auf Social Media gern einmal zum Cancel-Kreuzzug; Rechte wittern selbst in ihrem Lieblingscafé den von ihnen gefürchteten woke mob, wenn dort die Regenbogenfahne hängt. In dem Krieg um Identitätsfragen sind sie mindestens so empfindlich, wie sie das der Gegenseite unterstellen. Der Satz „Das wird man wohl noch sagen dürfen!“ ist auch ein Augenverschließen vor einer sich verändernden, jüngeren Gesellschaft.

Das Gedröhne über ein Land, in dem woke zur Doktrin geworden sei, dürfte auch viele verblenden. In den USA wird Rechtsextremismus von den Behörden als größte interne Bedrohung der Sicherheit der Bevölkerung gesehen. Dazu kommen immer mehr bewaffnete Angriffe auf Minderheiten – heuer etwa in einem queeren Nachtklub in Colorado und in einem Supermarkt in einer überwiegend schwarzen Gemeinde im Bundesstaat New York.

„Anti-woke“ ist mittlerweile ein beliebtes Label geworden, auch für jene, die man vielleicht nicht auf den ersten Blick für klassische Konservative halten würde. Online wird etwa Tesla-Chef Elon Musk von jungen, technikaffinen Männern dafür gefeiert, linken Stimmen auf dem Kurznachrichtendienst Twitter das Megafon wegnehmen zu wollen. Musk, 51 Jahre alt, innovativer Investor und der reichste Mensch der Erde, nannte wokeness jüngst ein „Gedankenvirus“, das „die Zivilisation an den Rande des Suizids treibt“.

Tatsächlich ließ er Figuren wie den Rapper Kanye „Ye“ West zurück auf den Dienst. Als Ye diese Woche verkündete, den nationalsozialistischen Diktator, Adolf Hitler, zu mögen, und ein Hakenkreuz auf seinem Twitter-Profil teilte, musste sogar der selbsternannte „Meinungsfreiheits-Absolutist“ Musk zurückrudern – Yes Profil ist wieder einmal offline. Besser wäre es, Musk bliebe hier woke, als die Augen zu verschließen.

Wo „woke“ herkommt

US-Bürgerrechtsbewegung.
Der Begriff „woke“ bedeutet so viel wie „aufgewacht sein“: Ab den 1940er-Jahren taucht er im Kontext der Bürgerrechtsbewegung auf, etwa in Liedern und Reden. Das Wort war als Anstoß für schwarze US-Amerikaner gedacht, dem rassistischen System gegenüber wachsam zu sein. Aus dem ursprünglichen politischen Konzept wurde über die Jahrzehnte ein Begriff, der eigentlich sagt: systemische Ungerechtigkeit erkennen und ansprechen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.12.2022)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

  • Meta-Magazin
  • Weltjournal
  • Ausland
Wokeness: "Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!" (2024)
Top Articles
Latest Posts
Article information

Author: Dr. Pierre Goyette

Last Updated:

Views: 6157

Rating: 5 / 5 (50 voted)

Reviews: 81% of readers found this page helpful

Author information

Name: Dr. Pierre Goyette

Birthday: 1998-01-29

Address: Apt. 611 3357 Yong Plain, West Audra, IL 70053

Phone: +5819954278378

Job: Construction Director

Hobby: Embroidery, Creative writing, Shopping, Driving, Stand-up comedy, Coffee roasting, Scrapbooking

Introduction: My name is Dr. Pierre Goyette, I am a enchanting, powerful, jolly, rich, graceful, colorful, zany person who loves writing and wants to share my knowledge and understanding with you.