Was woke bedeutet, wissen oft nicht einmal die, die behaupten, woke zu sein (2024)

Was woke bedeutet, wissen oft nicht einmal die, die behaupten, woke zu sein. Der Begriff ist im besten Falle unscharf, im schlechtesten verwirrend. Versuch einer Klärung.

Peter Engelmann

4 min

Was woke bedeutet, wissen oft nicht einmal die, die behaupten, woke zu sein (1)

Wenn es um Wokeness geht, bewegen wir uns im Spannungsfeld zwischen den Forderungen einer medial sehr präsenten politischen Linken, den universitären Diskursen der politischen Theorie und der Cancel-Culture in den sozialen Netzwerken. Woke bedeutet da nicht mehr wie ursprünglich Aufmerksamkeit für rassistische Diskriminierung, sondern gilt als Index für richtige Sprache und korrektes Verhalten.

Was woke ist und was nicht, bezeichnet eine scharfe Trennungslinie zwischen Gut und Böse. Zwischen uns und den anderen, die unsere Ansichten und unsere Sprache nicht teilen wollen. Woke spaltet die Gesellschaft. Woke macht die Menschen ungleich und verletzt damit ein Grundprinzip demokratischer Gesellschaft: die gleiche Geltung und die gleichen Rechte aller Bürger, auf deren Basis Interessenkonflikte in institutionellen Verfahren ausgetragen werden.

Auf den Spuren der intellektuellen Dimension der Woke-Kultur landet man bald bei Jacques Derrida und der poststrukturalistischen Philosophie. Ihr wird häufig die geistige Vaterschaft der woken Ideen unterstellt. Derrida ist der wohl schwierigste und zugleich einer der einflussreichsten Philosophen der Nachkriegszeit. Und das Verständnis seiner Philosophie wird heute stark durch seine amerikanischen Interpreten bestimmt. Doch die amerikanische Interpretation, die unter dem Schlagwort «French Theory» bekannt wurde, ist nicht nur problematisch, sondern falsch.

In Amerika wurde Derridas Ansatz, dem es um die Anerkennung von Differenz ging, politisch missbraucht als philosophische Grundlegung einer Ideologie, die die Grenzen zwischen gesellschaftlichen Identitätsgruppen zementiert und die Interessen einiger Gruppen zum neuen Massstab erheben will. Verfechter dieser Ideologie betonen gern und viel die Merkmale und Bedürfnisse ihrer eigenen identitären Gruppe und urteilen pauschal über jene, die sie als politische Gegner auserkoren haben. Nach dem Schema: Wir, die Guten, gegen sie, die Problematischen.

Wir und die anderen

Vor ihrem historischen Hintergrund lesen sich die französischen Denker jedoch ganz anders. Nämlich als denkerische Bemühung darum, was das Gemeinsame der totalitären Gesellschaften des 20.Jahrhunderts war. Und als Frage danach, ob und, wenn ja, wie wir totalitäre Ideologien und Gesellschaftssysteme verhindern können. Genau das Gegenteil also von dem, was der heute vorherrschende Woke-Begriff praktiziert.

Das Gemeinsame totalitären Denkens bestand für die französischen Denker in der Herrschaft eines absolut gesetzten Allgemeinen, das über das Einzelne herrscht. Dieses Allgemeine nimmt verschiedene Gestalten an, es kann ein Gott sein, aber auch ein absoluter Herrscher. Die europäische Aufklärung versuchte eine grundsätzliche Umkehr, indem sie die gleichberechtigten Individuen als Ausgangspunkt von Gesellschaftlichkeit verstand und das Individuum nicht nur als Moment eines übergeordneten, aus sich selbst geltenden Allgemeinen gelten liess.

Dieser Perspektivenwechsel bot wirtschaftlich die Voraussetzung für die Befreiung der Produktivkräfte der kapitalistischen Wirtschaftsweise. Politisch war sie Treiber für die Entwicklung demokratisch organisierter Gesellschaften auf der Basis der Anerkennung gleicher Rechte aller Individuen. Dessen also, was die unabdingbare Grundlage und Gemeinsamkeit demokratischer Gesellschaften bildet.

Ist es also falsch, Gruppen zu definieren? Nein, Verallgemeinern ist eine notwendige kognitive Strategie, um die Komplexität der Welt handhaben zu können. Der Mensch muss Gruppen bilden, um sich in der Gesellschaft zu orientieren. Seit Anbeginn der menschlichen Entwicklung unterscheiden wir zwischen uns und den anderen.

Gefahr für die Demokratie

Falsch ist es allerdings, solche Verallgemeinerungen für die Realität zu nehmen und das Individuelle, das die Mitglieder einer Gruppe voneinander unterscheidet, unter den Tisch zu kehren, wie es beispielsweise Rassisten tun. Wir können Verallgemeinerung nicht vermeiden, aber wir müssen aufpassen: Oft reduziert sie die Komplexität so, dass sie kontraproduktiv wird. Was genau bedeutet das nun für die Wokeness und die Cancel-Culture?

Solange woke nur meint, Sensibilität für benachteiligte gesellschaftliche Gruppen zu entwickeln, könnte es als Form der Toleranz verstanden werden. Wer stimmte nicht zu, Rassismus und Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und hom*ophobie und alle möglichen denkbaren Formen der Diskriminierung als inakzeptable, mit unserem Menschenbild und unserer Demokratie nicht zu vereinbarende Haltung abzuweisen.

Das Problem der Wokeness liegt nicht in deren Ziel, gegen Diskriminierung vorzugehen, sondern in der ideologischen, von Realitäten abgeschotteten Verabsolutierung dieser Konstruktion. Wokeness wird zur Gefahr für die Demokratie, wenn aufgrund von vereinfachenden Aussagen Gegner identifiziert und diese niedergemacht werden, um damit die eigene Gruppenidentität zu stärken. Leider ist dies der vorherrschende Gebrauch von Wokeness geworden.

Das Konzept der Wokeness wird aus der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung gegen Rassismus hergeleitet und lebt bis heute von deren moralischer Integrität. Aber es hat sich längst von seiner Herkunft gelöst und ist zum ideologischen Kampfbegriff eines linkspopulistischen akademischen Milieus geworden, das in der Gewissheit, im Besitz unumstösslicher Wahrheiten zu sein, an der Umerziehung der Mehrheitsgesellschaft arbeitet.

Das Letzte, was Derrida gewollt hätte

War die ursprüngliche Wokeness der Bürgerrechtsbewegung eine genuin demokratische Bewegung, weil sie Gleichheit forderte, ist sie heute zum Gegenteil geworden: zu einer aggressiv spaltenden, Andersdenkende denunzierenden Bewegung. Sie bekämpft die Demokratie und ihre Institutionen, sofern sie Widerstand gegen die Forderungen leisten, die sie der Mehrheit überstülpen will. Doch Demokratie bedeutet Toleranz gegenüber Minderheitspositionen, nicht deren Verabsolutierung.

Der Bezug auf Jacques Derrida erweckt den Anschein, das Konzept der Wokeness sei philosophisch solid abgestützt. Doch die ideologische Aufladung des Begriffs ist durch die Positionen der Dekonstruktion und Postmoderne nicht gedeckt. Im Gegenteil, sie steht den Theorien dieser Denker diametral entgegen. Ihnen ging es nicht um die selbstermächtigende Überhebung von Partikularinteressen, sondern um die tolerante Anerkennung von Vielfalt und den Ausgleich von Interessen in den Institutionen und Verfahren der Demokratie.

Die woke, linke Lesart von Derridas Denken der Differenz zielt an deren Intention vorbei. Die Konsequenz seiner Philosophie ist nicht ein zügelloser Individualismus, sondern Toleranz. Die politische Schlussfolgerung aus der Anerkennung von Differenzen besteht nicht darin, Gesellschaftlichkeit zu leugnen. Sondern darin, darauf zu bestehen, dass diese nur über gegenseitige Anerkennung aller Individuen und ihrer jeweiligen Eigenheiten gelingen kann. Es wäre das Letzte, was Derrida gewollt hätte, wenn sein Denken totalitären Tendenzen zur Macht verhelfen würde.

Peter Engelmann ist Philosoph und Verleger. Er gründete die Wiener Edition Passagen und den Passagen-Verlag.

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