"Woke": Was der Begriff bedeutet (2024)

Ein kleiner Junge trägt auf dem Women’s March in Washington ein Schild um den Hals: „I love naps but I stay woke“ steht darauf. Wer genau hinschaut, dem fällt das Wort woke auf. Das Schild ist ein Wortspiel: „Ich liebe Nickerchen – aber ich bleibe wach“.

Aber eigentlich gibt es das Wort woke nicht. Und trotzdem hat sich das Bild rasend schnell in Amerika verbreitet.

Das Wort hat sich in den vergangenen fünf Jahren in den USA durchgesetzt, parallel zum Aufstieg der neuen schwarzen Bürgerrechtsbewegung Black Lives Matter. Der Begriff wurde vor allem in den sozialen Netzwerken zum Markenzeichen dieser Bewegung. Sie glaubt: Wer in den USA schwarz ist, sieht sich mit großen sozialen Ungerechtigkeiten konfrontiert. Wer diese Ungerechtigkeiten erkennt und benennt, ist woke. Also in etwa übersetzt: wach sein im Kopf, Missstände bemerken.

https://twitter.com/jfuentes/status/822939689661382657

Die Soul-Sängerin Erykah Badu hat das Wort bekannt gemacht. Sie sang 2008 auf ihrem politisch motivierten Album „New Amerykah, Pt. 1: 4th World War“ in dem Lied „Master Teacher“:

Even if yo baby ain’t got no money
To support ya baby, you
(I stay woke)
Even when the preacher tell you some lies
And cheatin on ya mama, you stay woke
(I stay woke)
Even though you go through struggle and strife
To keep a healthy life, I stay woke
(I stay woke)
Everybody knows a black or a white there’s creatures in every shape and size
Everybody
(I stay woke)

https://www.youtube.com/watch?v=lJZq9rMzO2c&list=RDlJZq9rMzO2c#t=0

Für Badu war das damals ein Wort, mit dem sie zeigen wollte und konnte, dass sie den Blick auf die Realität nicht verloren hatte. 2012, als in Russland der Prozess gegen die Punk-Künstlerinnen von puss* Riot lief, twitterte sie:

https://twitter.com/fatbellybella/status/233215131876724736

Das Wort sickerte daraufhin noch tiefer in die schwarze Community der USA. Und als im August 2014 in Ferguson, Missouri, ein Polizist einen unbewaffneten schwarzen Jugendlichen erschoss und Aufstände ausbrachen, wurde woke zum Synonym des Widerstandes: Der Hashtag #StayWoke wandelte sich zu einem Symbol des Aufstandes – und einer Warnung, sich nicht von dem großen ungerechten System unterkriegen zu lassen, die Augen aufzuhalten und weiter gegen Rassismus zu kämpfen. Immer mehr Menschen benutzten den Hashtag auf Twitter, gedruckt erschien er bald auf T-Shirts – schwarze Aktivisten benannten sogar eine Homepage nach dem neuen Trendwort. Es erinnert an Alerta, Alerta Antifascista! (Alarm, Alarm Antifaschisten!), den spanischen Leitspruch linker Antifaschisten, der seit fast 100 Jahren auf allen Demonstrationen und in allen politischen Kämpfen wie ein Schild vorangetragen wird.

Der Mainstream hat sich das Wort schon längst einverleibt

Aber anders als Alerta, Alerta Antifascista! wurde woke schon durch die unbarmherzige Mühle der Mainstream-Kultur gedreht. Man kennt das zum Beispiel von dem Wort Feminismus, das mittlerweile als schick gilt und in Kontexten auftaucht, die so wenig mit der eigentlichen Bedeutung des Begriffs zu tun haben wie Simon de Beauvoir mit Horst Seehofer. Die Seite Jezebel hat ein Quiz basierend auf woke gemacht, auf Twitter benutzen es immer mehr Menschen losgelöst von seiner eigentlichen Bedeutung. Einige brechen es auf seinen weltanschaulich neutralen David-gegen-Goliath-Gehalt hinab, andere wiederum benutzen es ironisch, um auf die völlig banalen Unwägbarkeiten des Alltags hinzuweisen und sich gleichzeitig über die Black-Lives-Matter-Bewegung lustig zu machen.

Damit wird der eigentliche Gehalt des Wortes verwässert, gerade auch von Weißen. Immer wieder erfanden die Schwarzen Amerikas coole Sachen, die die Weißen später übernahmen: Jazz, Twerken – selbst der Hipster hat seine Ursprünge in der schwarzen Kultur. Und die Geschichte des Hip-Hop ist eine einzige Geschichte der kulturellen Aneignung. Aber – den Stolz beiseitegeschoben – für die Sache der schwarzen Bürgerrechtler muss das nicht schlecht sein, wenn sich alle erinnern, wofür das Wort eigentlich steht.

Denn unter anderem Buzzfeed schreibt darüber, wie woke der Serien-Star Matt McGorry ist, weil er Bücher über die Sklaverei und das rassistische Gefängnissystem der USA liest. So wird eben nicht nur die schwarze Musik plötzlich cool, sondern auch die schwarzen Anliegen, jedenfalls in den liberalen Kreisen Amerikas. Das neue Wort ist ein Tür- und Gesprächsöffner. Es kann die Ideen der Bewegung in die Gesellschaft tragen.

Die neuen Rechten haben ihr eigenes Pendant zu woke

In den konservativen und in den Milieus der amerikanischen neuen Rechten ist dieses Wort auch zu einem Symbol geworden, allerdings für eine „wahrgenommene intellektuelle Überlegenheit“. So wird es in dem beliebten (und ziemlich lustigen) Urban Dictionary definiert, das ähnlich wie Wikipedia funktioniert. Jeder kann Vorschläge für Begriffsbestimmungen machen. Diejenige Definition, die die meisten Stimmen bekommt, steht an erster Stelle. An zweiter Stelle diejenige mit den zweitmeisten Stimmen usw. Das interessante nun: Erst an zweiter Stelle landet die eigentliche Definition des Wortes, ganz oben steht die kritische konservative Begriffsbeschreibung. Zur woke-Bewegung gibt es also auch schon wieder die Gegenbewegung.

Die neuen Rechten Amerikas haben übrigens in ihren Kreisen ihr eigenes woke, ein Wort, das nur sie so benutzen. Wenn jemand plötzlich „die Wahrheit“ erkennt, sagen sie, dass er oder sie die „rote Pille“ genommen hat. Das sprachliche Bild stammt aus dem 90er-Jahre-Film-Klassiker Matrix, in dem sich der Held Neo entscheiden muss, ob er lieber in einer angenehmen, aber künstlich geschaffenen Welt in Gefangenschaft leben will oder in der gefährlichen, aber echten Welt in Freiheit.

https://www.youtube.com/watch?v=zE7PKRjrid4

Es ist verblüffend, wie ähnlich sich woke und die Rote Pille nehmen sind. Denn letztlich geht es bei beiden Wörtern darum, seinen Horizont zu erweitern und sich der „wahren Realität“ bewusst zu werden. Wer die beiden Ausdrücke benutzt, könnte dabei aber nicht unterschiedlicher sein. Es sind zwei Worte, die für ein völlig polarisiertes Amerika stehen und die letztlich nichts anderes sagen als: „Dieser Mensch gehört zu uns und nicht zu denen.“ Es sind sprachliche Mauern. Sie grenzen ab und stiften so Identität.

Text gegengelesen hat Esther Göbel; Martin Gommel hat das Aufmacher-Bild herausgesucht (istock / vladwel)

"Woke": Was der Begriff bedeutet (2024)

FAQs

What is the meaning of cancel culture? ›

For those of you who aren't aware, cancel culture refers to the mass withdrawal of support from public figures or celebrities who have done things that aren't socially accepted today. This practice of "canceling" or mass shaming often occurs on social media platforms such as Twitter, Instagram, or Facebook.

Is cancel culture positive or negative? ›

The expression "cancel culture" has mostly negative connotations and is used in debates on free speech and censorship.

What does getting cancelled mean on social media? ›

Cancel is getting a new use. Canceling and cancel culture have to do with the removing of support for public figures in response to their objectionable behavior or opinions.

How is cancel culture effective? ›

Proponents of cancel culture argue that it is a necessary form of accountability, particularly for marginalized communities that have been traditionally ignored or mistreated by traditional forms of justice. They see it as a way to shift societal norms and hold those in positions of power accountable for their actions.

What does cancel mean culture? ›

uncountable noun. Cancel culture is a culture, especially on social media, in which people stop supporting a person because they are encouraged to do so by someone that person has criticized.

What are the dangers of cancel culture? ›

Cancel culture, with its often immediate and punitive approach to addressing perceived wrongs, can inadvertently stymie opportunities for enlightenment and education. When individuals are quickly ostracized for their mistakes or views, it leaves little room for learning or growth.

What is the opposite of cancel culture? ›

The opposite of Cancel Culture could appear to be something like “Celebrity Culture”, 'Endorsem*nt Culture', “Fan Culture” / 'Fanatic Culture', “Hustle Culture” (Workaholism), “Meme Culture”, 'Platforming Culture', and perhaps “Personality Culture” (Cult of personality) among others.

What things have been cancelled by cancel culture? ›

23 brands that have experienced cancel culture
  • Urban Outfitters' Cultural Appropriation. In the wake of the #BlackLivesMatter movement, many brands were eager to position themselves as allies, with campaigns built around their commitment to racial equality. ...
  • GoDaddy's Inappropriate Behavior. ...
  • Aunt Jemima's Stereotypes.

How to respond to cancel culture? ›

If you're getting canceled, instead of getting defensive and clapping back, model vulnerability and listen. Listen to what people are saying and try to understand their points of view. Don't immediately jump to defend your actions or start attacking those who are calling for you or your company to be canceled.

How to avoid cancel culture? ›

We cannot ignore the fact that cancel culture is here to stay; however, there are things we can do to avoid being canceled online.
  1. Don't act upon your emotions immediately. ...
  2. Practice kindness. ...
  3. Think before you click. ...
  4. Don't be afraid to apologize. ...
  5. Detach from social media and seek real-life experiences.
May 5, 2023

What is the modern meaning of cancelled? ›

: to withdraw one's support for (someone, such as a celebrity, or something, such as a company) publicly and especially on social media. … the internet has canceled her over her alleged anti-black and hom*ophobic past.

Is cancel culture good for democracy? ›

For our society and democracy to evolve, we've needed new ways to further free speech, civic participation, and collective action. Cancel culture has given a voice to the voiceless at a time when other aspects of our democracy have become threatened.

What is the good side of cancel culture? ›

Cancel culture has been incredibly effective at combating sexism, racism, or any other type of abuse or harmful wrongdoing to others.

What is the conclusion of cancel culture? ›

In conclusion, cancel culture makes important contributions to both public awareness about social injustice and the promotion of social change. Firstly, it promotes social change by increasing public awareness about injustices and advocating for parties to be held accountable for their actions.

What does it mean to cancel someone? ›

to completely reject and stop supporting someone, especially because they have said something that offends you: A celebrity who has shared an unpopular opinion on social media risks being "canceled": they are completely boycotted by fans.

What does cancel culture mean in urban dictionary? ›

The Urban Dictionary defines cancel culture as “a modern internet phenomenon where a person is ejected from influence or fame by questionable actions … caused by a critical mass of people who are quick to judge and slow to question.”

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