USA: Martha's Vineyard – hier entspannen Präsidenten - WELT (2024)

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Wo anfangen: mit dem Karussell, dem Tante-Emma-Laden oder der Tankstelle? Also bitte schön: Das älteste Karussell Amerikas – es dreht sich seit mehr als 130 Jahren beständig im Kreis – befindet sich in dem Örtchen Oak Bluffs. Oak Bluffs liegt im Norden des Inselchens Martha's Vineyard vor der Küste von Massachusetts. Es handelt sich bei jenem Karussell um eine hinreißende Antiquität: Zwei Reihen Plastikpferde mit Glaskugelaugen und echten Pferdemähnen. Kein affiges Auf und Ab, kein Geschaukel, ganz einfaches Ringelreihen. Aus zwei Metallarmen können die kleinen Reiterinnen und Reiter, wenn sie nur schnell und geschickt genug sind, im Vorbeifahren kleine Messingringe ziehen. Auf den Stirnen der Pferde sind kleine Stangen angebracht, denen man die Ringe überstreifen kann. Wer den letzten Ring zieht, gewinnt eine Freifahrt.

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Leider sind in dem alten Holzhaus, in dem das Karussell steht, viele neumodische Spielkonsolen untergebracht, die sinnlos vor sich hin scheppern, kreischen und plärren. Das ist nicht zu vermeiden, auch im Land des Dollar muss ja wohl der Rubel rollen. Aber bevor das Karussell sich in Bewegung setzt, läutet die Karussellbetreiberin mit der Hand eine uralte Glocke. Danach ist alles wieder gut.

Die Tante-Emma-Läden sind über die ganze Insel verstreut. Man kann dort die „Vineyard Gazette“ käuflich erwerben, die Lokalzeitung, auf deren Titelseite heute ein poetisches Motto steht: „Oh, der Sommer hat die Erde / In einen Umhang gekleidet, der auf dem Webstuhl der Sonne gewebt wurde! / Und in einen Mantel aus Himmelsblau / Und einen Gürtel, wo die Flüsse dahinfließen.“ Doch die wichtigste Nachricht des Tages für die Einheimischen steht rechts oben in der Ecke: „Präsident Barack Obama und die erste Familie werden die bukolische Blue Heron Farm in Chilmark für ihre Ferien in der letzten Augustwoche mieten.“ Chilmark ist der teuerste Ort auf dieser ohnehin nicht ganz billigen Insel, aber eigentlich handelt es sich um keinen Ort, sondern um eine Ansammlung von Anwesen. Beinahe zwölf Hektar ist das Grundstück groß, das die Obamas mieten werden: ein Haus für sich selber, eines für den Secret Service, der die Aufgabe hat, schön achtzugeben, dass niemand den Präsidenten umbringt, und ein drittes Haus für den Stab des Weißen Hauses.

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35.000 bis 50.000 Dollar (rund 24.000 bis 35.000 Euro) wird die Miete pro Woche und pro Gebäude kosten. „Übereinkunft wurde erzielt“, so meldet die wichtigste Zeitung von Martha's Vineyard, „dass die Obamas die Transaktion als gewöhnliche Sommervermietung betrachten, von den Zahlungsbedingungen bis zu der Frage, ob sie den Familienhund mitbringen dürfen.“ Auch für die Einwohner von Martha's Vineyard handelt es sich um business as usual, sie sind prominente Besucher gewöhnt. In der linken oberen Ecke der „Vineyard Gazette“ entdeckt man diese beiden Zahlen: „Bevölkerung im Winter: 15.007, im Sommer 105.624.“

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Hier ein paar Namen von berühmten Saisongästen ohne jede Reihenfolge und Gewichtung: Oprah Winfrey, David Letterman, Alan Dershowitz, der „Weiße Hai“. (Der Film wurde auf Martha's Vineyard gedreht.) Auch Walter Cronkite, der jüngst verstorbene Nachrichtensprecher, der den Amerikanern half, den Vietnamkrieg zu verlieren, hatte auf dem Inselchen seinen Sommersitz. Und Politiker lieben diesen Ort – genauer gesagt: Politiker, die der Demokratischen Partei angehören. (Das mag daran liegen, dass Massachusetts eigentlich geschlossen linksliberal wählt.) So wurde Bill Clinton schon häufig auf den Flohmärkten von Martha's Vineyard gesichtet. Und weil wir gerade dabei sind: Pressesprecher wollen das Gerücht, dass seine Tochter Chelsea Clinton just Ende August auf Martha's Vineyard heiraten wird, derzeit weder bestätigen noch dementieren. Also wird es schon wahr sein. Wetten, dass der Trauzeuge groß und gut aussehend ist und sein Nachname mit O. beginnt?

Doch zurück zu den Tante-Emma-Läden. Naturgemäß gibt es in ihnen das Lebensnotwendige: Milch und Eier und Brot und Gemüse. Und guten alten Kaugummi mit Nelkengeschmack. Dieses Zeug kauten die GIs im Zweiten Weltkrieg, danach kam es ziemlich aus der Mode. Aber hier auf Martha's Vineyard hat der Nelkenkaugummi sich erhalten. Fehlt noch die Tankstelle. Wir entdecken sie in Menemsha, einem kleinen Fischerdorf, das nach Salzluft, Sonne und schwerer Arbeit riecht. Hier kann man Hummer und Austern direkt vom Fischkutter kaufen und auf verwitterten Holzbänken direkt am Hafen verzehren. Überhaupt stellen wir bald fest, dass die örtliche Variante des Hot Dog die „Lobster Roll“ ist: ein weiches Knatschbrötchen, der Länge nach aufgeschnitten, das mit den essbaren Teilen des Hummers sowie viel Mayonnaise gefüllt wurde.

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Also, die Tankstelle! Es handelt sich um drei Blechzapfsäulen in einer Reihe neben einem flachen Holzbau. Sonst nichts. Fast sehen die Zapfsäulen so aus wie auf dem berühmten Bild von Edward Hopper. Wir reiben uns die Augen, denn eigentlich gibt es so etwas nur noch im Traum. Ja, auf Martha's Vineyard ist die Zeit stehen geblieben. Oder genauer: Dieses Inselchen vor der Küste von Massachusetts scheint neben der Zeit zu existieren, außerhalb von ihr. Mit dem Adjektiv „schön“ ist Martha's Vineyard darum nur unzulänglich beschrieben. Gewiss doch, die Sonne, der Sommer, das Himmelsblau, das Meer und so weiter, siehe oben. Trotzdem ist diese Insel nicht eigentlich schön zu nennen – sie ist vielmehr, man muss es so altmodisch sagen, entzückend. Jeder Ort hat hier seinen ganz eigenen Charakter: Edgartown im Süden ist mondän, es gibt dort Bars und teure Restaurants. Oak Bluffs wirkt daneben beinahe zu hübsch, um wahr zu sein. An manchen Stellen ist es eigentlich eine Spur zu putzig: In engen Gassen geht man zwischen kleinen bunten viktorianischen Holzhäusern spazieren, die allesamt so aussehen, als seien sie aus Pfefferkuchen gemacht. Zwei dieser Holzhäuser sind kitschpostkartenrosa angestrichen. Übrigens gibt es ein banales Geheimnis, das wenigstens zum Teil erklärt, warum Martha's Vineyard wie aus der Zeit gefallen scheint: Die Kommunen haben sich – das ist amerikanische Basisdemokratie! – darauf verständigt, dass große Handelsketten hier keinen Fuß auf den Boden bekommen. Auf Martha's Vineyard gibt es also keinen einzigen McDonald's, keine Dunkin' Donuts, weit und breit schon gar keinen Walmart. Auch Eiscreme von Häagen-Dasz sucht man vergebens. Sogar die Banken sind alle Lokalunternehmen.

Es ist also keine Überraschung, dass es schon Generationen von Demokratenfamilien in der Sommerzeit hierher zieht. So auch die Kennedys, zu deren tragischer Familiengeschichte das Inselchen einige Kapitel beitragen kann – wie auch das letzte Ereignis von welthistorischer Bedeutung, das auf (oder gleich neben) Martha's Vineyard stattgefunden hat: der Zwischenfall von Chappaquiddick. Spät am Abend des 18. Juli 1969 wollte Ted Kennedy, der jüngste Bruder des ermordeten John F. Kennedy, eine hübsche junge Frau namens Mary Jo Kopechne nach Hause fahren. Anbeblich war er nicht betrunken. Angeblich hatte er nichts mit ihr. Er fuhr sein Auto über eine Holzbrücke vor Chappaquiddick ins Wasser, dabei ertrank die junge Frau. Kennedy gelang es zu entkommen. Er schwamm dann, so gab er später zu Protokoll, die hundert Meter von Chappaquiddick nach Edgartown auf Martha's Vineyard hinüber und tätigte erst am nächsten Morgen ein Telefonat – nein, nicht mit der Polizei. Mit seinem Anwalt. Die Untersuchung ergab später, dass es in dem Auto unter Wasser wohl eine Luftblase gab. Hätte Ted Kennedy rechtzeitig Hilfe geholt, wäre Mary Jo Kopechne womöglich gerettet worden.

Den heutigen Besucher interessiert kaum die besoffene Fahrlässigkeit eines Senators von anno dunnemals. Ihn interessieren vielmehr die Vögel, auf die man ihn hinweist, während er im Jeep ganz langsam einen idyllischen Sandstrand entlangrumpelt. Ihn interessieren Moose und Flechten und winzige, aber perfekt geformte Muscheln, die man ihm in die Hand krümelt: Chappaquiddick ist ein liebevoll konserviertes Naturschutzgebiet, über das mit den Augen des Argus ein gemeinnütziger Verein wacht. Am Ende dieses kleinen Ausflugs in die Natur steht ein Leuchtturm. Wenn man seine Stufen erklimmt und von oben die Augen über den Ozean und das satte Grün da unten schweifen lässt, wird mit einem Mal klar, warum Martha's Vineyard den Besucher so sehr entzückt: Hier ist die Welt noch in Ordnung. Ganz ohne einen Riss.

Und wenn ein thermonuklearer Krieg ausbräche – auf diesem Inselchen würde zum frischen Schwertfischsteak immer noch kühler grüner Veltliner eingeschenkt. Kein Wunder, dass Obama just hier für eine Weile froh vergessen will, dass er Präsident der mächtigsten Nation der Welt ist.

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